Urteil 3 BvF 1/20

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Das Oberste Gericht entschied in seinem Urteil 3 BvF 1/20 vom 12.07.2020, dass das Achtundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches formell verfassungswidrig und somit nichtig sei.

Begründet wurde dies damit, dass die nach Art. 77 Abs. 4 GG benötigte Mehrheit nach Definition aus § 9 Abs. 5 Nr. 3 iVm. § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB bei der Beschlussfassung des Bundesrates über den Gesetzentwurf nicht erreicht worden ist. Das Gesetz sei demnach nicht korrekt zustande gekommen.

Anm.: Das Gesetz ist nach dem Resetz nicht mehr in Kraft!


Verfahrensbeteiligte

Antragstellerin
Bayerische Staatsregierung
Prozessbevollmächtigter
Nils Jonas Neuheimer


Urteil des Obersten Gerichtes

Leitsätze


zum Beschluss vom 12. Juli 2020


– 3 BvF 1/20 –


1. Ein Antrag auf Abstrakte Normenkontrolle, der die Prüfung einer Vorschrift mit dem vDeutschen Gesetzbuch vorsieht, ist mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG vereinbar.


2. In Abstimmungen des Bundesrates gelten nicht abgegebene Stimmen nicht als Enthaltung oder Verzicht auf Erheben eines Einspruchs.



OBERSTES GERICHT


– 3 BvF 1/20 –


IM NAMEN DES VOLKES



In dem Verfahren
zur Verfassungsrechtlichen Prüfung,


„ob das Achtundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches — Streichung des § 219a vom 24.05.2020 (BGBl. S. 1) mit § 9 Abs. 5 Nr. 3 in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB unvereinbar und nichtig ist.“


Antragstellerin: Bayerische Staatsregierung, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Staatskanzlei

Franz-Josef-Strauß-Ring 1, 80539 München


- Bevollmächtigter: Staatsminister der Justiz, Nils Neuheimer


hat das Oberste Gericht – Dritter Senat –

unter Mitwirkung der Richter


Präsident Müller,


Vizepräsident Baumann,


Grühn,


und Kerstenbaum


am 12. Juli 2020 beschlossen:


Das Achtundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 24. Mai 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 1) ist mit Art. 77 Abs. 3 und 4 GG in Verbindung mit § 9 Abs. 5 Nr. 3 und § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB unvereinbar und nichtig.


G r ü n d e :


A.


Der Antragsteller wendet sich mit seinem Normenkontrollantrag gegen das Achtundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 24. Mai 2020 (BGBl. I S. 1), welches § 219a StGB abschaffen soll.


I.


1. Am 03. Mai 2020 wurde das Gesetz auf Entwurf eines achtundfünfzigsten Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches durch die Fraktion des Forums liberaler Demokraten in den Deutschen Bundestag eingebracht. Dieser Gesetzentwurf wurde am 16. Mai 2020 in geänderter Form durch den Deutschen Bundestag angenommen und an den Bundesrat weitergeleitet.


2. Die erste Lesung des Gesetzentwurfes begann am 17. Mai 2020, woraufhin am 20. Mai die Abstimmung über den Gesetzentwurf eingeleitet wurde. Das Gesetz wurde durch das Bundesratspräsidium als Einspruchsgesetz kategorisiert. In der Abstimmung wurden durch Bayern und Niedersachsen je 6 Stimmen für einen Einspruch abgegeben, während Thüringen mit 4 Stimmen auf einen Einspruch verzichtete. Die Bundesländer Hamburg mit drei Stimmen und Nordrhein-Westfalen mit 6 Stimmen verzichteten auf eine Stimmabgabe. Daraufhin stellte die Bundesratspräsidentin am 23. Mai 2020 fest, dass der Bundesrat mehrheitlich auf einen Einspruch verzichte; folglich werde der Gesetzentwurf dem Bundespräsidenten zur Ausfertigung weitergeleitet.


3. Am 24. Mai 2020 wurde der Gesetzentwurf durch den Bundespräsidenten ausgefertigt und im ersten Teil des Bundesgesetzblatts auf Seite 1 abgedruckt.


II.


Die Antragstellerin hält das Gesetz für verfassungswidrig. Das Gesetz sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, da entgegen der Feststellung der Bundesratspräsidentin im Bundesrat eine Mehrheit für einen Einspruch gestimmt habe. Die grundgesetzlich normierte Voraussetzung der „Mehrheit der Stimmen“ des Bundesrates, die gemäß Art. 52 Abs. 2 S. 1 GG für einen Beschluss des Bundesrats erforderlich sei, sei nach § 9 Abs. 5 Nr. 3 vDGB als Absolute Mehrheit gem. § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB auszulegen. Dadurch dass mit dem Freistaate Bayern und Niedersachsen 12 Stimmen für einen Einspruch stimmten, während mit dem Verzicht des Freistaate Thüringen vier Stimmen gegen einen Einspruch stimmten, habe der Bundesrat Einspruch gegen den Gesetzentwurf eingelegt, da die Nichtabgabe Stimmen der anderen Bundesländer nicht im Ergebnis zu berücksichtigen sei.


III.


Gelegenheit zur Stellungnahme hatten der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, sowie alle Landesregierungen.


1. Die Bundesregierung hält die Abstrakte Normenkontrolle für unzulässig und unbegründet.


(a) Die Abstrakte Normenkontrolle sei unzulässig, da nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG eine Abstrakte Normenkontrolle lediglich bei „Zweifeln über die förmliche oder sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht“ zulässig sei. Dadurch dass sich dieser Antrag auf Abstrakte Normenkontrolle auf Zweifel mit der Vereinbarkeit mit dem vDeutschen Gesetzbuch beziehe, sei eine verfassungsrechtliche Prüfung gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG unzulässig.


(b) Der Abstrakte Normenkontrollantrag sei auch unbegründet, da das Gesetz ordnungsgemäß zustande gekommen sei. Die Bundesregierung teilt die Ansichten der Antragstellerin bezüglich der Anwendung der Definition der Absoluten Mehrheit gem. Art. 52 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit § 9 Abs. 5 Nr. 3 und § 9 Abs. 1 Nr. 3 vDGB, wonach hier jene Definition der Absoluten Mehrheit einschlägig sei. Auf Grund seiner besonderen Stellung im Abstimmungsverfahren sei im Bundesrat weder ein Verzicht auf Stimmabgabe noch die Enthaltung der Stimme vorgesehen, auch wenn andere Vorschriften des vDGB dem entgegenstehen. Ferner seien die nicht abgegebenen Stimmen der Hansestadt Hamburg und Nordrhein-Westfalen als abgegebene Stimmen einzustufen, da im Bundesrat auf Grund des Abstimmungsprozederes lediglich die Ja-Stimmen zu zählen seien, wodurch absente oder nicht abgegebene Stimmen automatisch mit einbezogen würden. Folglich habe eine Nicht-Abgabe der Stimmen in jedem Fall als eine Enthaltung beziehungsweise eine Ablehnung bei Zustimmungsgesetzen und einen Verzicht auf Einspruch bei Einspruchsgesetzen zur Folge. Dadurch dass so Hamburg mit 3 Stimmen und Nordrhein-Westfalen mit 6 Stimmen an der Abstimmung teilgenommen hätten, allerdings auf Grund ihrer mangelnden Stimmabgabe für einen Verzicht auf Einspruchserhebung gestimmt haben, wurden 12 Stimmen für einen Einspruch abgegeben, obwohl 13 von 25 von Nöten gewesen wären. Folglich sei das Gesetz ordnungsgemäß vom Bundesrat beschlossen und somit zustande gekommen.


IV.


Die Antragstellerin hat auf eine mündliche Verhandlung (§ 13 Abs. 1 OGG) verzichtet.


B.


Der Normenkontrollantrag ist zulässig und begründet.


I.


Der Normenkontrolle steht nicht entgegen, dass ein Verstoß gegen das vDeutsche Gesetzbuch geprüft werden soll. Bei der Abstrakten Normenkontrolle handelt es sich um ein Verfahren, in dem objektiv die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit einer Norm geprüft wird. Aus diesem Grund ist zur Prüfung der formellen und materiellen Verfassungswidrigkeit von Bundesgesetzen das Grundgesetz heranzuziehen. Auch eine Prüfung auf Basis des vDeutschen Gesetzbuches ist hier statthaft, da das vDeutsche Gesetzbuch auf Grund seiner Funktion als Spielregeln und seiner Stellung in der Normenhierarchie über dem Grundgesetz als höherrangiges Verfassungsrecht gegenüber des Grundgesetzes anzusehen ist. Art. 93 Abs. 2 Nr. 1 GG steht dem insofern nicht entgegen, als dass der Gesetzgeber hier die Intention hat, dem Obersten Gericht einen Verfahrenstyp zur objektiven Prüfung einer Rechtsnorm auf verfassungsrechtlicher Ebene zu übertragen. Es wäre inkonsistent, hier allein das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab zuzulassen, höherrangigeres Verfassungsrecht in Form des vDeutschen Gesetzbuches allerdings außen vor zu lassen, da das den Sinn und Zweck der abstrakten Normenkontrolle konterkariert. Folglich ist es geboten, die Zuständigkeit des Obersten Gerichts zur Prüfung der Kompatibilität einer Norm mit dem Grundgesetz und des vDeutschen Gesetzbuches anzunehmen.


II.


Die angegriffene Vorschrift ist formell verfassungswidrig, da sie im Gesetzgebungsverfahren nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist.


1. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Änderung der Strafgesetze ist gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gegeben.


2. Das Achtundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches wurde am 16. Mai 2020 durch den Deutschen Bundestag ordnungsgemäß mit der erforderlichen einfachen Mehrheit gebilligt. Es kam ein ordnungsgemäßer Beschluss des Gesetzes zustande, woraufhin der Gesetzentwurf an den Bundesrat weitergeleitet wurde.


3. Das Gesetz ist im Bundesrat nicht ordnungsgemäß zustande gekommen.


(a) Bei dem vorliegenden Gesetz handelt es sich um ein Einspruchsgesetz gemäß Art. 77 Abs. 3 GG, da das Gesetz durch das Grundgesetz nicht ausdrücklich für zustimmungsbedürftig erklärt wird.


(b) Die Feststellung, der Bundesrat habe auf einen Einspruch verzichtet,erfolgte rechtswidrig, da der Bundesrat mehrheitlich Einspruch erhob.


(aa) Der Bundesrat hat gem. Art. 77 Abs. 3 GG gegen ein Einspruchsgesetz binnen zwei Wochen Einspruch zu erheben. Dazu muss der Einspruch des Bundesrates mit der Mehrheit der Stimmen gemäß Art. 77 Abs. 4 S. 1 GG erfolgen. Der Begriff der „Mehrheit der Stimmen“ wird in den Spielregeln näher definiert. So ist die Definition der „Absoluten Mehrheit“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB einschlägig, wenn die „Mehrheit der Mitglieder“ (§ 9 Abs. 5 Nr. 3) eines Parlamentsgremiums von Nöten ist. Der Begriff der „Mehrheit der Stimmen“ gem. Art. 77 Abs. 4 S. 1 GG ist dabei als kongruent mit der „Mehrheit der Mitglieder“ aus § 9 Abs. 5 Nr. 1 vDGB anzusehen, da im Bundesrat die Länder ihre Stimmen, vertreten durch Mitglieder der Landesregierungen der Länder vertreten werden (vgl. Art. 51 Abs. 1 und 3 GG). Die Stimmen der im Bundesrat vertretenen Länder resultieren also aus Stimmabgaben durch Mitglieder der Bundesländer, wodurch beide Begriffe gleichzusetzen sind. Folglich ist für den Bundesratsbeschluss eine Absolute Mehrheit im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB von Nöten.


(bb) Eine absolute Mehrheit im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB liegt vor, wenn „mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen“ vorliegt, wobei Enthaltungen berücksichtigt werden. Im Bundesrat ist es auf Grund seines besonderen Wesens nicht möglich, in einer Abstimmung über ein Einspruchsgesetz eine Stimmenthaltung abzugeben. Es besteht allein die Möglichkeit, Einspruch zu erheben oder auf einen Einspruch zu verzichten. Folglich kann es sich bei den sechs Stimmen Nordrhein-Westfalens und den drei Stimmen Hamburgs nicht um Stimmenthaltungen handeln. Die Formulierung „abgegebene Stimmen“ aus der Definition der Absoluten Mehrheit aus § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB macht deutlich, dass im politischen Meinungsprozess eine Stimmabgabe, aber auch eine Nichtabgabe der Stimme vorgesehen ist. Diese Nicht-Abgabe der Stimme darf nach Konstruktion der Definition der Absoluten Mehrheit in § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB auch keinen Niederschlag im politischen Gesetzgebungsprozess finden, um inhaltlich konsistent zu bleiben. Folglich ist der Verzicht auf Stimmabgabe nicht mit dem Verzicht auf einen Einspruch gleichzusetzen. Dementsprechend haben die Länder Nordrhein-Westfalen und die Hansestadt Hamburg ihre insgesamt neun Stimmen nicht abgegeben und sind per Definition der Absoluten Mehrheit nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 vDGB nicht einzubeziehen. Allein die sechs Stimmen des Freistaates Bayern und Niedersachsens, sowie die vier Stimmen des Freistaates Thüringen wurden in der Abstimmung in dieser Sache abgegeben. Für eine absolute Mehrheit nach § 9 Abs. 1 Nr 2 vDGB sind also in dieser Abstimmung neun Stimmen von Nöten, damit der Bundesrat Einspruch gegen ein Gesetz erhebt. Mit den sechs Stimmen des Freistaates Bayern und den sechs Stimmen Niedersachsens wird dieses Quorum mit insgesamt zwölf Stimmen erreicht. Folglich erhob der Bundesrat Einspruch gegen das Achtundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches. Das Gesetz hätte nicht an den Bundespräsidenten zur Ausfertigung weitergeleitet werden dürfen und ist somit nicht ordnungsgemäß zustande gekommen.


C.


Die Entscheidung erging einstimmig.


Müller | Baumann

Kerstenbaum | Grühn


Einzelnachweise